S-Bahn-Roulette

Privatisierung jetzt stoppen

| Carl Waßmuth

Was Wettbewerb genannt wird, ist eine Privatisierung. In Antworten auf Bürger*innenanfragen bemühen sich Senatsmitarbeiter*innen zu beschwichtigen. Statt von Privatisierung spricht man von »Rückgriff auf die erforderliche Expertise privatwirtschaftlich verfasster Bahnunternehmen« unter »Zugrundelegung anspruchsvoller Sozialstandards«. Man hofft auf »gute Angebote zu angemessenen Preisen«. In Wirklichkeit spielt der Senat S-Bahn-Roulette auf Kosten von Beschäftigten und Nutzer*innen.

Ein Gefühl wohliger Vorfreude machte sich breit. Wer in den letzten Jahren in Berlin Zeitung gelesen oder im Rundfunk Berlin-Brandenburg die Nachrichten verfolgt hat, dem wurde das Bild vermittelt, dass sich das Land Berlin um viele neue S Bahn-Wagen kümmert. Dass es professionell eine Ausschreibung steuert, bei der es am Ende entscheidet, wer die Wagen produzieren darf und wer sie später betreibt, und dabei noch Geld spart. Das Land Berlin wird Eigentümer der Wagen, Bilder von rot-gelben Zügen illustrieren das rot-rot-grüne Erfolgsvorhaben.

Und doch ist es alles andere als eine harmlose Ausschreibung. Es geht um Deutschlands aktuell größte Privatisierung mit einem Volumen von acht bis elf Milliarden Euro, bei der mehr Steuergeld an die Finanzmärkte abzufließen droht als beim (später gescheiterten) Bahnbörsengang 2008. Im Zuge des Verfahrens will Berlin die S Bahn zerschlagen und obendrein die Steuerung der für Berlins Klimapolitik so wichtigen S Bahn aufgeben, obwohl für den schädlichen Autoverkehr dringend eine leistungsfähige Alternative erforderlich ist. Die S Bahn benötigt dichte Takte, praktische Mehrzweckabteile und einen Streckenausbau ins Umland.

Die neuen rot-gelben Wagen werden zwar kommen, wenn auch vielleicht nicht so schnell wie versprochen. Aber der bisher einheitliche Betrieb wird aufgeteilt in drei Teile: Ringbahn, Nord-Süd und Ost-West/Stadtbahn. Werkstätten und Nachtabstellanlagen müssen auf die verschiedenen Anbieter verteilt werden. Die künftigen Betreiber werden dann zunächst 15 Jahre lang miteinander und mit der bestehenden S Bahn Berlin GmbH, einer Tochter der Deutschen Bahn AG, konkurrieren. Bei Störungen streiten anschließend Anwälte vor Gericht um Schadensersatz. Dabei haben die Kundinnen und Kunden den eigentlichen Schaden, kein Gericht ersetzt ihnen lange Wartezeiten und Fahrten in überfüllten Kurzzügen.

Um der S Bahn Berlin GmbH keinen Wettbewerbsvorteil zuzugestehen, baut Berlin mindestens eine zusätzliche Werkstatt an der Schönerlinder Straße. Und um alle Betreiber an diese Werkstatt anzuschließen, muss ebenfalls von Berlin eine 300 Millionen Euro teure Brücke quer über das Karower Kreuz errichtet werden. Die Baumaßnahmen dienen nur dazu, die geplante Aufteilung der S Bahn umzusetzen, für die Fahrgäste entsteht kein zusätzlicher Nutzen. Für die derzeit Beschäftigten der S Bahn Berlin GmbH sind die Vorgänge sogar bedrohlich: Erhalten neue Betreiber den Zuschlag, gehen Arbeitsplätze bei der S Bahn Berlin GmbH verloren (siehe auch Seite II).

Die Wartung der Wagen soll innerhalb der Privatisierung gesondert privatisiert werden: Ein Finanzinvestor bekommt im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft die neuen Wagen für deren komplette Lebensdauer übergeben, er darf künftig Geld damit verdienen, indem er die Kosten für die Wartung drückt und die Betreiber gegeneinander ausspielt. Und wenn er möchte, darf er auch das ganze Geschäft weiterverkaufen. Eine eigens neu gegründete »Landesanstalt für Schienenfahrzeuge« dient dabei als staatliche Briefkastenfirma: Sie leitet alle Steuergelder durch, eine eigene Tätigkeit ist ihr hingegen gesetzlich untersagt (mehr dazu auf Seite III).

Die geplante S Bahn-Privatisierung folgt einer Reihe einzelner Privatisierungsschritte, von denen die Ausschreibung nur der letzte sein soll. Jeder Schritt für sich wurde als alternativlos dargestellt. Es ist eine Kette von Lügen: Statt die S Bahn in eine GmbH zu überführen, hätte man sie wie die die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) als Anstalt des öffentlichen Rechts ausbilden können. Das gilt auch für den Mutterkonzern Deutsche Bahn AG, der zudem selbstverständlich nicht zwingend an die Börse musste, und erst recht musste dafür die Berliner S Bahn nicht kaputtgespart werden. Die rot-schwarze Berliner Koalition hätte 2012 den Betrieb nicht in drei Lose aufteilen und damit die Sollbruchstelle für die aktuell laufende Ausschreibung schaffen müssen. Und die grüne Verkehrssenatorin Regine Günther hätte die S Bahn entweder ganz anders ausschreiben oder direkt vergeben können, verschiedene Möglichkeiten dazu zeigt ein neues juristisches Positionspapier von Rechtsanwalt Benno Reinhardt auf (siehe dazu Seite III).

Stattdessen hat sich die Berliner S Bahn-Ausschreibung an der Ausschreibung der Londoner U Bahn orientiert. Die »Tube« mit einer Milliarde Fahrgästen jährlich war vor 20 Jahren in zwei Teile zerschlagen und per öffentlich-privater Partnerschaft privatisiert worden. Als in der darauffolgenden Chaotisierung des U Bahn-Systems kein sicherer Verkehr mehr angeboten werden konnte, musste die öffentliche Hand eingreifen und retten, was noch zu retten war. Nach nur achteinhalb Jahren statt der geplanten 15 Jahre musste das System zurückgekauft und über Jahre teuer saniert werden. Dabei muss Berlin gar nicht über den Kanal sehen, um aus Privatisierungserfahrungen zu lernen. Die 2004 von Berlin privatisierten Wohnungen ermöglichen heute Vonovia und Deutscher Wohnen, Berlins Mietpreise zu diktieren. Der Teilverkauf der Berliner Wasserbetriebe führte zu einer Gebührenexplosion und einem faktischen Investitionsstopp in das Leitungsnetz. Erst ein Volksentscheid machte dem Spuk ein Ende, die hohen Rückkaufkosten stehen allerdings noch bis 2042 auf unserer jährlichen Wasserrechnung. Und jedes Mal gab es vorher die tollsten Versprechungen.

Noch ist es nicht zu spät: Die Ausschreibung kann aufgehoben werden, auch das zeigt das Positionspapier von Benno Reinhardt. Bisherige Bieter müssten entschädigt werden, die Kosten dafür wären aber im Vergleich zu den enormen Mehrkosten der abenteuerlichen Privatisierung gering.

Es ist nur eine Frage des politischen Willens: Wenn die rot-rot-grüne Koalition wirklich die S Bahn privatisieren will, kann sie Regine Günther gewähren lassen. Ist es ihr hingegen ernst mit ihren sozialen Zielen und dem Klimaschutz, muss sie den Abbruch beschließen. Am besten noch vor der Wahl.

BU:

Demo gegen S-Bahn-Zerschlagung und -Privatisierung, Alexanderplatz, 22. Mai 2020 | Foto: Johanna Erdmann

Copyright und Erstveröffentlichung in: Sonderzeitung gegen die Berliner S-Bahn-Privatisierung, herausgegeben vom Aktionsbündnis EINE S-Bahn für ALLE als taz-Beilage am 22. Juni 2021, www.eine-s-bahn-fuer-alle.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert